Unzuverlässig werden, um sich selbst gegenüber verlässlich zu sein.
Unzuverlässig werden, um sich selbst gegenüber verlässlich zu sein.
Ich habe da ein Thema, auf dass ich richtig Lust habe. Das Thema heißt unzuverlässig werden. Das klingt erstmal seltsam, denn Verbindlichkeit und Verlässlichkeit ist ein sehr hoher menschlicher, sozialer Wert. Für mein Gegenüber verlässlich und verbindlich zu sein ist etwas, das Sicherheit und Verbindung stiftet. Doch wenn ich mich immer verbindlich zeige, auch in Situationen, Kontexten und Beziehungen, die mir nicht guttun, kann Verlässlichkeit toxisch sein.
Dann ist es gut, sich langsam aus dieser empfundenen Verbindlichkeit herauszulösen.
Das kann jedoch schwierig sein und gelingt nicht so leicht, weil mein Kopf mir direkt alle furchtbaren Szenarien aufzeigt, was passieren könnte, wenn ich mich aus der Verbindung zu z.B meiner Familie, oder meinem ausbeuterischen Arbeitgeber, oder Freunden die mir nicht guttun, löse.
Ich befürchte Bestrafung, Einsamkeit, ausgestoßen sein, und Missachtung. Deswegen kann es total hilfreich sein, langsam zu üben ein wenig unzuverlässig zu werden.
Ich möchte mit diesem Text ein Plädoyer halten für die Verlässlichkeit sich selbst gegenüber, dafür, aufzubegehren und sich Schritt für Schritt aus Zusammenhängen zu lösen, die mir, meinem Selbstwert und meiner Selbstliebe schaden.
Mir zu erlauben, manchmal auch Nein zu sagen, wenn ich spüre, dass das was von mir verlangt oder erwartet wird mir nicht guttut. Mich mir selbst zuzuwenden, anstatt unausgesprochenen, oder auch fordernd gestellten Erwartungen zu entsprechen.
Anstatt mich einem Druck- oder Droh-Szenario zu beugen, mich zu entziehen.
Und da das so schwer sein kann, kann ich eventuell mit ganz kleinen Schritten beginnen zu üben.
Mal Nein zu einem Treffen zu sagen, mal keine Überstunden zu machen, mal nicht zu einem Familientreffen zu erscheinen, oder auch ein Treffen mit Freunden rechtzeitig zu verlassen, wenn ich spüre, dass es mir nicht mehr guttut.
Und mir dann zu erlauben, zu spüren wie sich das anfühlt, vielleicht die erste Anstrengung wahrzunehmen, wenn ich mich traue dieses Neue auszuprobieren. Und auch spüren, wie es sich anfühlt, diesen Freiraum zu bekommen und evtl. auch zu genießen.
Den unausgesprochenen Verbindlichkeiten entkommen, etwas das mir nicht mehr guttut und von dem ich mich aber noch nicht distanzieren kann. Mir erlauben, in kleinen Schritten unzuverlässig zu werden, mal etwas nicht zu tun, mal mich selbst an die erste Stelle stellen und herausfinden, was dann passiert,
In welche Richtung geht meine Angst? Worum sorge ich mich? Passiert wirklich der Schrecken, den ich befürchte? Und was passiert noch, wie fühle ich mich, wie fühlt sich der Freiraum an, den ich mir geschaffen habe?
Zuverlässig sein heißt eigentlich, dass ich mich an das halte was ich zugesagt habe, doch oft ist diese Zustimmung ausgesprochen ohne sie zu reflektieren, ohne zu schauen, ob sie mir entspricht, oder ob ich zuverlässig bin, weil ich mich nicht traue nein zu sagen? Zustimmung wird erwartet und ich folge, ohne mich selbst dabei im Blick zu haben aus Angst vor Konsequenzen, die ich erwarte, um meinen Bindungshunger zu füttern. Bindungshunger meint die Sehnsucht nach Verbindung, nach Zugehörigkeit, nach gesehen werden.
Verlässlichkeit in unguten Zusammenhängen und vor allen Dingen einseiti,g führt in tiefe Selbstzweifel, in Verlassenheit, in Enttäuschung und oft in innerlichen und äußerlichen Rückzug.
In der Regel haben gerade sehr zuverlässige Menschen ein Problem damit, Nein zu sagen, besonders dann, wenn sie sich jemandem Gegenüber sehen, der ihr Nein nicht akzeptiert und die vielleicht gelernt haben, dass es nichts nützt für ein Nein zu kämpfen, oder dass das sogar gefährlich sein kann, während das Gegenüber seine Neins mit Macht und Rigidität vertritt.
Wenn jemand Dein Nein nicht akzeptiert und damit auch Deine Grenzen ignoriert ist das ein Hinweis darauf, dass in dieser Beziehung etwas in Schieflage geraten ist und Ihr nicht auf Augenhöhe seid.
Verlässlichkeit sollten wir als Wert uns selbst gegenüber etablieren. Ich sollte mich mit mir selbst sicher fühlen und mich selbst nicht zugunsten von jemand anderen verlassen, das bedeutet, verlässlich mir selbst gegenüber zu sein.
Und wenn das aus den unterschiedlichsten Gründen schwerfällt, macht es Sinn mir Hilfe und Unterstützung zu holen. Das ist etwas, was ich an dieser Stelle immer wieder sage und es ist mir ein tiefes Anliegen klar zu machen, dass wir nicht alles alleine können und auch nicht können müssen.
Vielleicht ist es ebenfalls günstig, sich um das zu kümmern, was mir in Wirklichkeit Angst und Sorge bereitet, damit ich den Blick ein wenig weiten kann und weniger abhängig bin von einem Gegenüber, das mir nicht gut tut.
Vielleicht bedeutet unzuverlässig zu sein auch die Fähigkeit zum Ungehorsam zu entwickeln. Nicht alles mit sich machen zu lassen. Seine eigenen Grenzen zu wahren und sich aufzulehnen.
Unzuverlässigkeit kann auch die erste Erlaubnis sein sich aus einer toxischen Bindung langsam und achtsam herauszulösen. Und nicht zuletzt kann Unzuverlässigkeit auch die Anerkennung sein, dass ich nicht perfekt bin, dass ich nicht alles richtig mache, und daraus kann sich eventuell eine Großzügigkeit, eine Toleranz, und auch eine Gelassenheit mir selbst gegenüber entwickeln.
Und somit kann Unzuverlässigkeit bedeuten, dass ich sehr zuverlässig zu mir selbst bin, zu meinen eigenen Werten und meiner Liebe zu mir selbst. Dass ich mich nicht verlasse, um zuverlässig zu sein.
Ich wünsche Dir einen kleinen oder großen Mutausbruch. 😉
Hallo Schreiberin/Schreiber,
ich bin über Deinen Text gestolpert und er triggert mich an. Zunächst stimme ich zu bei der Aussage „Verbindlichkeit und Verlässlichkeit ist ein sehr hoher menschlicher, sozialer Wert“. Wenn ich ein paar Wünsche frei hätte, würde ich mir wünschen, das ich als Mitmensch von anderen so beschrieben werde. Verbindlich, Verlässlich. Ich denke aber von mir selbst, dass ich maximal einen Durcschnittswert erreiche.
Du verbindest jedoch mit diesen Begriffen eine „Ja-Sager oder Harmoniesucht-Menthalität“? Menschen die verbindlich und verlässlich sind trauen sich nicht nein zu sagen ? Dem kann ich überhaupt nicht zustimmen. Ich bin tendenziell eher ein solcher Typ und bin eben nicht gerade die beispielhafte Leuchte in Verbindlichkeit und Verlässlichkeit.
Ich behaupte das Gegenteil: Gerade Menschen die verbindlich und verlässlich sind überlegen gründlich ob sie bestimmte Dinge zusagen und einhalten. Weil sie es nämlich tatsächlich dann auch tun. Deshalb sagen diese Menschen eher öfter „Nein“ , wenn sie Zweifel hegen ob Ihnen die Angelegenheit gut tut. Darum beneide ich sie.
Vielleicht hast Du Menschen gemeint, welche sich immer in der Verantwortung sehen. Die sich ganz oft sagen „ich übernehme diese Unangenehme Aufgabe, es macht ja sonst keiner “ . Diese Retter der Welt, haben in der Tat ein toxisches Programm.
herzliche Grüße
Stefan Knauf
(ein Leser)
Lieber Stefan,
ich möchte dir von Herzen für das Feedback auf meinen Text danken und wenn ich deinen Text lese, habe ich das Gefühl, wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt.
Für mich ist es, um sich selbst gegenüber verlässlich zu sein, unerlässlich die eigenen Grenzen zu wahren. Und dafür braucht es an der richtigen Stelle auch ein Nein.
Vielleicht ließe sich dieses Nein auch mit Authentizität oder gesundem Selbstbewusstsein beschreiben. In dem Text war es mir wichtig zum Ausdruck zu bringen, dass es in erster Linie Verbindlichkeit und Verlässlichkeit sich selbst gegenüber braucht, um dann vielleicht auch in angemessenem Rahmen verbindlich und verlässlich im Außen sein zu können.
Ich wünsche dir von Herzen alles Gute, Chris