Transgenerationales Trauma

Bild: Edith Jourdan

Der folgende Text bietet evtl. einiges an Trigger-Potential. Bitte achte gut auf Dich beim Lesen. Mache immer mal wieder eine Pause. Oder vielleicht hast Du auch die Möglichkeit, Dir den Text zusammen mit einem Gegenüber zu lesen und zu besprechen.

 

Transgenerationales Trauma ist ein relativ neuer Begriff, der in Deutschland etwa seit den 80er Jahren benutzt wird. Grundlegende Erkenntnisse stammen aus den 60er Jahren, durch die Untersuchung von Holocaustüberlebenden, mittlerweile gibt es über 500 Arbeiten dazu. Interessanterweise gibt es tatsächlich erst seit dem 23.8.2020 einen Eintrag bei Wikipedia zum Thema unter dem Titel „transgenerationale Weitergabe“.

Transgenerationales Trauma, was ist das eigentlich?

Ein transgenerationales Trauma ist ein Trauma, welches, wie der Begriff schon sagt, über Generationen weitergegeben wird. Traumata entstehen, wenn Ereignisse so gewaltig, so bedrohlich sind, dass sie nicht bewältigt und integriert werden konnten und können. Wenn die integrative Kapazität des Gehirns überfordert ist und es deshalb zu dem Notprogramm der Dissoziation (Abspaltung) greifen muss. Ein Trauma ist eine Wunde und ein psychisches Trauma ist eine seelische Verletzung, die der Heilung bedarf.

Michaela Huber nennt transgenerationales Trauma sehr bildhaft „denn langen Schatten des Traumas“.

Dies können sowohl Großereignisse, wie z.B. Kriege oder Naturkatastrophen, als auch traumatische Ereignisse sein, die das Familiensystem betreffen. Wie z.B. Familiengeheimnisse, die sowohl die komplette Familie als auch einzelne Familienmitglieder betreffen können.

So etwas kann z.B. die Vergangenheit im nationalsozialistischen Kontext sein, sowohl auf der Täter- als auch auf der Opfer-Ebene. Es kann ein Selbstmord, eine Gewalterfahrung, insbesondere eine Erfahrung mit sexualisierter Gewalt sein. Es kann das nicht tolerierte Verhalten eines Familienmitgliedes sein, und vieles mehr.

Familien sind in der Regel geschlossene Systeme, das heißt, in ihr bestehen ganz eigene Rituale und Regeln, ganz eigene Muster und Mechanismen.

Ereignisse, die nicht sein dürfen, aus was für einem Grund auch immer, werden in der Regel beschwiegen aus der Angst heraus, was passieren würde, wenn diese Geheimnisse ans Licht kämen. Also ist das Verschweigen und das daraus resultierende Geheimnis ein Schutzmechanismus dieser Familie.

Die Beteiligten hoffen, dass wenn ein Ereignis verschwiegen wird, nimmt es keinen Raum ein, es ist wie nicht existent und zeigt somit auch keine Wirkung.

Doch das ist eine Illusion. Diese Illusion führt zu einer Scheinsicherheit, die die Mitglieder dieser Familie unter Anstrengung nach Kräften aufrecht zu erhalten versuchen. Je länger geschwiegen wird, desto stärker wird der Kodex, das über das Geschehen nicht gesprochen wird. Eine Verletzung dieses Kodexes wird in der Regel nicht toleriert.
Die unbewusst gewählte Strategie des Schweigens führt allerdings nicht dazu, dass dieses schmerzvolle Ereignis vergessen wird, sondern zu einer gewissen Starre und Unlebendigkeit im System. Die Familie muss weiterleben mit einem, ich beschreibe es einmal so, schwarzen Loch in der Mitte. Dieses sogenannte schwarze Loch führt in die Isolation und untermauert durch Schweigegebote, oder sogar Schweigegelübde der einzelnen Mitglieder die Existenz dessen, was nicht sein darf.

Ein System, in dem ein Geheimnis gehütet werden muss, muss sich abgrenzen und darf sich nicht öffnen. Jeder, der versucht das Schweigen zu brechen riskiert den Ausschluss, und damit den Kontaktabbruch zur Familie.

Der „Sinn“ dieses Verhaltens mag den direkt Betroffenen vielleicht noch in der ein oder anderen Art einleuchten, wird aber, je länger das Geheimnis weitergegeben wird, umso diffuser und mit der Zeit sogar unverständlich. Trotzdem bleibt die Last des Geheimnisses vorhanden. Das Geschehen kann nicht heilen und wirkt deswegen im Untergrund weiter und das unter Umständen über Generationen.

Ein Erlebnis, das beschwiegen wird, hat weder die Chance zu heilen, noch integriert zu werden. Oft unausgesprochen besteht innerhalb der Familie eine Loyalität diesem Geheimnis gegenüber. Loyalität ist an sich ein wunderbarer menschlicher Wert, doch loyal einem Geheimnis gegenüber zu sein, kann absolut toxisch sein. Loyalität kann in diesem Zusammenhang bedeuten, alten Werten und alten Sichtweisen, die nicht die eigenen sind, gegenüber loyal zu sein. Vielleicht sich einem alten Schuldgefühl, oder einem alten Armutsbewusstsein, einer alten Scham, oder einem unbewussten Glaubenssatz, nicht glücklich oder erfolgreich sein zu dürfen verbunden zu fühlen. Manchmal gibt es auch so etwas, wie sich einer alten Überlebensschuld verpflichtet zu fühlen.

Eltern, die aus irgendeinem Grund traumatisiert sind in der Regel weniger resilient, wie Eltern die in Sicherheit aufgewachsen sind. Wenn ein Elternteil z.B. durch Gewalterfahrungen traumatisiert wurde und in dieser Not keine Hilfe bekam, ist es schwierig dieses Trauma alleine und ohne Unterstützung aufzuarbeiten.

Ein Trauma das nicht aufgearbeitet wird, hat die Chance weitergegeben zu werden. Wenn dieses Elternteil erlebt, dass sein Kind selbst in Not gerät, und das mag schon in ganz kleinen Dingen passieren, wird das alte Trauma, der Not ausgeliefert zu sein, getriggert. Für diesen Elternteil gibt es in der Regel nur zwei Möglichkeiten. Entweder sich von dieser Not abzuwenden und damit sich auch von seinem Kind abzuwenden, oder diese Not zum Schweigen zu bringen. Beides sind Reaktionen, die das Potenzial in sich bergen auch das Kind zu traumatisieren. Und somit findet eine Weitergabe statt.
Eine weitere Möglichkeit Trauma weiterzugeben, ist die Epigenetik. Das bedeutet, dass unter Stress der Mensch gewisse Proteine ausschüttet, die dazu führen, dass Teile des genetischen Materials abgeschaltet und damit inaktiv werden. Das kann bedeuten, dass eine im höchsten Maß gestresste Mutter ihren Stress bzw. ihre mangelnde Resilienz während der Schwangerschaft an das Kind weitergibt, durch die Weitergabe ihres Erbmaterials. Dies ist natürlich eine sehr verkürzte Sicht, sollte hier allerdings reichen.

Genauso furchtbar wie direkte Weitergabe ist es, wenn Kinder das Leid der Ahnen, der Vorangegangenen, spüren und das etwas mit ihnen macht, ohne dass sie den Finger darauflegen können. Es wird ein Schmerz weitergegeben, ohne dass er benannt werden kann. Es entsteht so etwas wie ein unsichtbares Band, dass nur durchschnitten werden kann, indem wir es ins Bewusstsein holen und transformieren.

Trauma wird weitergegeben durch Schweigen, durch Muster, Strategien, Verhaltenskodex, die eine kräftezehrende Spannung erzeugen, da sie weder selbst gewählt noch dem eigenen Wesenskern nahe sind.

Ein Kind bezieht immer das, was es erlebt auf sich. Die Art und Weise wie die Bezugsperson mit ihm umgehen, das Verhalten, das ihm gegenüber gezeigt wird und auch Emotionen, die sich innerhalb der Familie zeigen, wie Trauer und Aggressivität, All das bezieht ein Kind auf sich. Es ist gar nicht in der Lage sich davon zu distanzieren und zu verstehen, dass diese Situation auch unabhängig von ihm existieren würde. Damit wird es eventuell etwas leichter zu verstehen was für eine immense Auswirkung transgenerationales Trauma auf Kinder und ihre Entwicklung haben kann.

Bisher habe ich in erster Linie von transgenerationalem Trauma innerhalb der Familie gesprochen. Doch transgenerationales Trauma findet natürlich auch im weit größeren Maße statt. Es ist leicht zu verstehen, dass die Folgen eines Krieges nicht nur den einzelnen, sondern ganze Nationen belasten. Die Gräueltaten, die während eines Krieges begangen werden sind nach Ende des Krieges nicht einfach gelöscht, sondern wirken in unserem Kollektiv, in den Personen und damit in ihren Angehörigen und damit in ihren Kindern und Kindeskindern fort.

Nicht aufgearbeitete kollektive Traumatisierungen, wirken auf unsere Gesellschaft spaltend.

Ein Trauma das nicht integriert wurde lässt sich über längere Zeit nur aushalten, indem es verdrängt und dissoziiert wird. Dies ist ein Schutzmechanismus, den wir in der Regel versuchen stabil zu halten.

Fast alle unsere Eltern oder Großeltern haben den zweiten Weltkrieg und seine Folgen erlebt. Sie mussten das Grauen des Krieges ertragen, ein zerstörtes Land wieder aufbauen mit den Folgen des Krieges leben.

Dies ging vielfach nur dadurch, dass über die Gräuel des Krieges geschwiegen wurde. Bis heute tun wir uns schwer mit einer angemessenen Erinnerungskultur. Die meisten von uns fordern, dass das was passiert ist niemals wieder passieren darf. Aber wir finden keine gemeinsame Sprache, um über diese Vergangenheit zu reden. Währenddessen formiert sich aus den unterschiedlichsten Gründen eine neue Rechte die sehr wohl klare Worte in den Mund nimmt, vermeintliche Gegner benennt und auffordert einer klaren Linie des Nationalismus zu folgen.

Dem haben wir kaum etwas entgegenzusetzen, wenn wir es nicht schaffen, uns mit den Wunden der Vergangenheit auseinanderzusetzen, hinzuschauen, den Schmerz zuzulassen und das Geschehen gemeinsam zu integrieren. Wir müssen verstehen, dass einmal erlebte Traumata und im besonderem Ausmaß kollektives Trauma sich nicht einfach auflöst, sondern wenn es nicht angeschaut wird, das Leben und das Miteinander von Generationen verändert und auch unsere Zukunft beeinflusst.
Vielleicht magst du dir vorstellen, was sich in unserer Gesellschaft verändern würde, wenn wir nicht einen Teil der gemeinsamen Vergangenheit ausblenden müssten? In der wir mit einander verbunden uns dem öffnen können für das, was geschehen ist und gemeinsam die Folgen betrauern und tragen.

 

Transgenerationales Trauma und Schuld im kollektiven Erleben

Das Gefühl der Schuld, dass wir während des zweiten Weltkrieges als Nation auf uns geladen haben, ist ins kollektive Bewusstsein hinein gesunken. Doch haben wir keine Möglichkeiten entwickelt, mit diesem Gefühl der Schuld umzugehen. Schuld ist in der Regel ein Label, das verteilt wird, ohne zu erklären, ohne zu hinterfragen, ohne zu begreifen oder zu verarbeiten. Es teilt die Welt in Schuldige und Unschuldige. Da ist nichts Verbindendes, nichts Versöhnliches, kein Spielraum.

Wenn ich das Gefühl der Schuld allerdings nicht aufarbeiten kann, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten damit umzugehen. Ich kann das Gefühl komplett ablehnen und damit negieren, oder ich nehme die Schuld an, fühle mich als Täter. Aus dem Gefühl heraus schuldig zu sein, werde ich handlungsunfähig und sprachlos, aus dem Gefühl unschuldig zum Opfer gemacht zu werden, entsteht das Gefühl der Ohnmacht.

Beide Arten des Umgangs mit dieser Schuld ist nicht hilfreich und dient nicht der Verarbeitung.

Da diese beiden Arten  so widersprüchlich und so unvereinbar sind, kann dieser Umgang (Ablehnung oder ohnmächtige Annahme) nur in eine Spaltung führen und damit in eine aggressive Auseinandersetzung, die weder die richtigen Worte für dieses Problem findet, noch die Möglichkeit schafft während der Auseinandersetzung in Verbindung zu sein.
Schuld ist ein Thema und ein Gefühl von dem wir uns abwenden, mit dem wir am liebsten nichts zu tun haben möchten.

Weder schuldig zu sein, noch mit jemanden an einen Tisch sitzen wollen, der Schuld auf sich geladen hat ist angenehm. Deswegen versuchen wir oft dies zu vermeiden. Doch die Vermeidung führt in eine Hilflosigkeit und eine Erstarrung. Auch Hilflosigkeit und der Erstarrung ist ein Gefühl, ein Gespür, dem wir in der Regel entkommen möchten und wenn wir keine adäquaten Möglichkeiten sehen, dem zu entrinnen, folgt häufig Kampf oder Flucht.

Pierre Janet, französischer Philosoph, Psychiater und Psychotherapeut, sagte schon Anfang des 20. Jahrhunderts, (1909), dass, „Wer Trauma nicht realisiert ist gezwungen es zu wiederholen, oder es zu reinszenieren.“ Dazu sollten wir es nicht kommen lassen.

Wir Menschen neigen dazu machtvolles Verhalten als erfolgreich zu bewerten, zu wiederholen und zu reproduzieren. Täter neigen dazu die Schuld abzuwehren, Opfer dazu sie anzunehmen und in der Regel wird Täter imitierendes Verhalten als Erfolg wahrgenommen. Dies gilt es zu durchschauen, nicht zu akzeptieren und zu verändern.

Die größte Waffe in der Weitergabe von Trauma ist wie gesagt das Schweigen, deswegen ist es so gut, dass wir hier sind, um das Schweigen zu brechen. Das mag jetzt etwas pathetisch klingen, doch Du kannst Dir bewusst sein, dass wenn Du und ich und wir nicht mehr schweigen, dann hat das große Bedeutung für uns selbst, unser Umfeld und für die, die nach uns kommen. Es ist so wichtig eine Sprache zu finden, um aufzudecken ohne zu trennen, um zu kommunizieren, um zu verstehen.

Michaela Huber, Psychotherapeutin und großartige Visionärin sagt, „wir bilden unsere Identität durch die, die vor uns waren und die, die nach uns kommen“. Das bedeutet, dass wir in der Lage sind an einer heilsamen Entwicklung mitzuwirken.

Wir müssen uns erlauben, die Dinge beim Namen zu nennen, ihnen einen Raum geben und sie sichtbar machen – ihnen eine Gestalt geben.

„Wir sind keine isolierten Monaden, wir können vieles nicht alleine.“ Michaela Huber

 

Doch was ist hilfreich?

Hilfreich ist, nicht von Schuld, sondern von Verantwortung zu sprechen.

Hilfreich ist, die Dinge beim Namen zu nennen, ihnen eine Gestalt zu geben, sie sichtbar zu machen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Hilfreich ist, sie ins eigene Leben zu integrieren und zu transformieren.

Doch wie kann das gelingen?

Der erste und auch schmerzhafte Schritt ist, das Trauma zu benennen, es dann anerkennen, dass es existiert und dann Möglichkeiten zu finden, es zu integrieren.

Eventuell mit Unterstützung.

 

Hilfreiche und verbindende Fragen könnten sein:

Was konnte ich Wertvolles und Hilfreiches von meiner vorherigen Generation übernehmen?

Was durfte in mir und meinem Umfeld bereits an Heilung geschehen?

Was gibt es noch zu tun und wie kann das gehen?

Was habe ich mir erarbeitet, welcher Wertvolle Weg liegt schon hinter mir?

Was ist meine Vision von einem Leben in Verbindung?

(inspiriert von Michaela Huber)

 

Falls der Text für Dich interessant ist und Du Fragen hast, melde Dich gerne.

Herzensgrüße Chris