Wieviel Ruhe hältst du aus?
Vor vielen Jahren, in meiner Yoga-Lehrerin-Ausbildung, sagte einmal mein Philosophielehrer Eberhard Bärr zu unserer Gruppe, dass wir an sich nur Yoga machen, um zu lernen, uns selbst auszuhalten(!).

Damals fand ich den Satz interessant, auch provozierend, aber ehrlich gesagt hatte er für mein Leben noch keine wirkliche, tiefe Bedeutung, denn mein Leben war so ausgefüllt mit verschiedensten Tätigkeiten, dass ich gar nicht in die Verlegenheit kam mich selbst in Ruhe aushalten zu müssen.

Irgendwann (auch mit Hilfe von Yoga) änderte sich das und ich lernte den Wert tiefer Ruhe zu schätzen, ich lernte mein Leben besser zu strukturieren und das was mir gut tat höher zu bewerten und mehr Raum zu geben. Und so erfuhr ich immer wieder, dass es nicht immer leicht ist Ruhe, Stille und Zeit mit sich selbst auszuhalten, oder diese Zeit wohlwollend zu gestalten.

Natürlich stellte ich mir die Frage, warum das so schwierig ist, obwohl sich fast jeder nach Ruhe sehnt?

Wieso fallen uns Ruhe, Gelassenheit, Achtsamkeit, Entspannung und ähnliches mehr so schwer, und wieso gelingt es oft nicht, diesen so wichtigen Aspekten unseres Lebens den angemessenen Raum zu geben?
Die Erklärung hierzu findet sich, wie schon so oft, im autonomen Nervensystem.

Viele von uns leben mit einem übererregtes Nervensystem und das aus gutem Grund. (dazu an anderer Stelle mehr. Evtl. hilft Dir hier auch der ein oder andere Blogartikel weiter, z.B. ein Leben in Balance, oder Selbstregulation)

Wie du vielleicht schon mal gehört hast, neigt ein übererregtes Nervensystem dazu die Welt nach Gefahren zu scannen, um Sicherheit zu etablieren. Wenn die Welt von uns als ein gefährlicher Ort wahrgenommen wird, ist zu verstehen, dass ich mich nicht einfach beruhigen und entspannen kann, denn dann bin ich ja nicht mehr in der Lage rechtzeitig zu fliehen oder zu kämpfen.

Ruhe wird dann tief in unserem Inneren als etwas Bedrohliches wahrgenommen, was es zu vermeiden gilt.

Evtl. empfinde ich auch die Welt in meinem Inneren als bedrohlich und möchte dem, was im Inneren lauert am liebsten nicht begegnen?

Wir sind viel im Außen unterwegs und versuchen auf die ein oder andere Art und Weise Sicherheit in unserem Leben zu gestalten. Sowohl in unseren Beziehungen, als auch im Beruf oder in unserer freien Zeit.

In der Regel suche wir dann nach Strategien, um uns sicher zu fühlen, die zu dem übererregtem Nervensystem passen und in der Regel mit einer Aktivität, die unsere Aufmerksamkeit bindet, verknüpft sind.  Um Sicherheit zu generieren neigen viele Menschen dazu sich abzulenken, entweder durch Medien, Sport, zu viel Arbeit, oder zu viel Kontakt im außen. Aktiv zu sein bewahrt uns davor, die Unruhe im Inneren zu spüren. Verständlich? Ich finde schon.

Die Sehnsucht nach Ruhe ist zwar immer noch da, aber wenn sich die Möglichkeit zur Ruhe zu kommen dann einmal bietet, drängen sich tausend andere Sachen nach vorne und die Gelegenheit auszuruhen verstreicht ungenutzt. Zurück bleibt oft Unzufriedenheit und mit der Zeit auch eine gewisse (oder starke) Überlastung und daraus resultierend eine Erschöpfung.

Eine weitere Erscheinungsform unserer eigenen Übererregtheit ist die Unkonzentriertheit. Wenn ich nicht in der Lage bin, mich auf mich, oder mein Tun zu konzentrieren, weil mich Gedanken und Sorgen, oder auch Trigger überfluten, dann ist Unkonzentriertheit, Nervosität und leichte Reizbarkeit eine häufige Erscheinungsform des Nervensystems, das weil es Gefahr wähnt, ein ruhiges verweilen verhindert. Es muss mit seiner Aufmerksamkeit überall im Außen sein, um auf das vorbereitet zu sein, was da lauert. Dadurch führt der Mangel an Konzentration immer wieder von sich weg und die Aufmerksamkeit bleibt schwebend und lässt sich kaum bündeln.

Es ist mir ein Anliegen zu betonen, dass ich dies nicht bewerte, sondern ich davon überzeugt bin, dass wir einen guten Grund haben, um die Ruhe zu vermeiden. Und dennoch, oder gerade deshalb halte ich es für überaus wichtig diese Gründe zu erforschen und Wege zu finden immer mehr bei sich anzukommen.

Doch nicht nur Menschen mit einem übererregtem Nervensystem fällt es schwer in die Ruhe zu finden. Auch in der Untererregung ist es schwer in eine Ruhe zu finden ohne in einem ohnmachtsähnlichen Zustand zu landen, sondern in eine wache Ruhe, in der ich lebendig bin.

Ein Mensch mit einem untererregtem Nervensystem landet, wenn er versucht in die Ruhe zu finden oft in der Dissoziation oder schläft sofort ein. Die Untererregung sorgt wie ein Notaus dafür, nicht in die wache Ruhe zu kommen, in der ich wahrnehmend bleibe. Denn wie auch im übererregtem Nervensystem lauert in der wachen Ruhe, in der ich mir meiner Selbst bewusst begegne die Gefahr.

Interessant ist die Frage, was ich zu vermeiden versuche, was könnte mir passieren, wenn ich mir einmal erlaube in die Ruhe zu finden?

Welchen Dämonen aus der Vergangenheit, oder Gegenwart oder vielleicht sogar auch aus der Zukunft befürchte ich zu begegnen?

Wieso ist der Kontakt mit mir, der Person, die ich am allerbesten kenne, so schwierig?

Was passiert, wenn ich mir vorstelle, dass ich mir so, wie ich bin begegnen würde?

Wie viel Wertschätzung, Anerkennung, Wohlwollen und Verständnis habe ich für mich und meinem Mensch-sein, wenn ich nichts tue?
Und was braucht es, um zu lernen, sich selbst auszuhalten?
Welche Qualitäten und Fähigkeiten helfen, um in angenehme Art und Weise bei sich zu sein? Welche Unterstützung würde es brauchen? Und was ist schon längst da und darf mehr ins Licht gerückt werden?

Ich wünsche Dir von Herzen Freude und wohltuende Erkenntnisse beim Forschen und freue mich über jede Rückmeldung, jeden Denkanstoß oder auch Frage.

Herzensgrüße Chris